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Titel
Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert


Herausgeber
Fulda, Daniel; Jaeger, Stephan
Reihe
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Erschienen
Berlin 2019: de Gruyter
Anzahl Seiten
VII, 502 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Deupmann, School of Foreign Languages, Beijing Institute of Technology

Der historische Roman ist, wie die beträchtliche Zahl einschlägiger Veröffentlichungen der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, offenbar nicht Geschichte, sondern überaus produktive Gegenwart. Von einer „Konjunktur“ oder gar „Hochkonjunktur“ historischen Erzählens (Einleitung, S. 1), deren Aufwärtstrend freilich bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren begann, ist in den meisten der insgesamt 18 Beiträge des vorliegenden Sammelbandes die Rede – manchmal auch mit subklassifizierenden Spezifikationen etwa hinsichtlich des Kriminal- oder Zeitreiseromans. Den Herausgebern, den Literaturwissenschaftlern Daniel Fulda (Halle-Wittenberg) und Stephan Jaeger (Winnipeg, Kanada), liegt besonders der „autobiographisch fundierte Generationenroman“ als neue, um die Jahrtausendwende hervorgetretene „Boomgattung“ am Herzen (S. 9–14). Die Gründe für diese Konjunktur können in der „Wiederkehr des Erzählens“ seit den 1980er-Jahren1 oder einem historisch gewendeten Interesse am „Realen“ diesseits allgegenwärtiger medientechnischer Simulakren vermutet werden. Das möglicherweise neue Interesse an erlebbarer Geschichte wird aber auch von anderen, nichtliterarischen Medien mit je eigenen Konstruktionen des „Authentischen“ bedient und bestätigt: durch Filme, Ausstellungen, historische Themenparks und sogar interaktive Computerspiele. „Geschichtskultur“ geht heute weit über eine Expertenkultur hinaus, auf deren akademischen, nicht zuletzt erkenntnistheoretischen Diskurs sie freilich gerade in ihren ästhetisch anspruchsvollen Manifestationen zurückbezogen bleibt.

Die Herausgeber und Beiträger/innen tragen diesem Umstand in doppelter Weise Rechnung: zum einen dadurch, dass sie geschichtliches Erzählen sehr breit als narrative Darstellungen definieren, in denen „etwas über Geschichte ausgesagt wird: wie sie war oder gewesen sein könnte, wie sie sein sollte. Was Geschichte (im Allgemeinen oder in gewählten Ausschnitten) ausmacht oder antreibt“ (S. 32f.). Dazu gehören Darstellungen von Zeitgeschichte und Gegenwart, Rekonstruktionen vergangener Lebenswelten mit fiktiven Figuren, Handlungen und „Settings“ und sogar kontrafaktische Texte (Uchronien). Dazu zählen aber auch nicht-fiktionale (faktuale) Texte wie historische Sachbücher und Biografien. Zum anderen nämlich ersetzt bereits der Titel des Bandes den „historischen Roman“ durch die gattungsindefinite Bezeichnung „romanhaftes Erzählen“. Auch wenn der wissenschaftlich gut erforschte historische Roman2 weiterhin als Orientierungs- und Abgrenzungskonzept in Anspruch genommen wird, verschiebt sich der Fokus damit zu den Verfahren und Problemen narrativer Darstellungen von Geschichte. Die Überlegung, dass auch historiografische Darstellungen auf „literarischen“ Modellen und Verfahren basieren, hat bereits Hayden Whites vieldiskutierte Studie „Metahistory“ (1973) ins Spiel gebracht. Der Problemhorizont der versammelten Beiträge ist also weit abgesteckt: Es geht um die Grundspannungen von Faktualität (oder gar Authentizität) und Fiktion, Objektivität und Subjektivierung mit Hilfe erzählter Figuren, Vergangenheit und sinnlicher Vergegenwärtigung oder Präsenz, historischer und ästhetischer (Selbst-)Referenz, Vergangenheitsillusion (wie vor allem im historischen Roman des 19. Jahrhunderts, man denke etwa an Felix Dahn) sowie Reflexion der epistemischen und ästhetischen Darstellbarkeit von Geschichtlichem überhaupt. Gegen eine radikal poststrukturalistische Skepsis ist damit ein „Außerhalb“ der Texte anerkannt, ohne das es derartige Spannungen nicht gäbe.

Die Beiträge des Bandes berücksichtigen deutschsprachige, niederländische, angloamerikanische und französische Literaturen. Sie verteilen sich auf vier Sektionen: I. „Leitbegriffe und -aspekte“, II. „Romanhaftes Geschichtserzählen vom 20. Jahrhundert“, III. „Alternative und hybride Romangattungen“ sowie IV. „Zeitreisen und populäres Geschichtserzählen“. Zu den „Leitbegriffen“ (Sektion I) steuert Beatrix van Dam eine Unterscheidung bei, auf die sich auch andere Beiträge wiederholt beziehen: Verfahren, welche die historische Referenz betonen, bezeichnet die Autorin als „emersive Techniken“ (S. 67), während „immersive“ die sinnlich verdichtete Imagination einer erzählten Welt intendieren, ohne dazu deren Wirklichkeitsbezug stornieren zu müssen. Dass mit verlebendigenden Erzählverfahren (im Sinne bereits der rhetorischen evidentia oder enargeia) keineswegs eine Illusion des „Es-ist-so-gewesen“ erzeugt werden muss, sondern sogar metahistoriografische Reflexionen über die Möglichkeiten der Darstellung vergangener Wirklichkeit verknüpft werden können, zeigt sie an David van Reybroucks „Kongo“ (ndl. 2010) und Philipp Bloms „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“ (engl. 2008 unter dem Titel „The Vertigo Years“).

Grundlegend erscheinen auch Daniel Fuldas systematische Überlegungen zu Anachronismen „epistemischer“, „interessebedingter“, „faktografischer“ oder „darstellungstechnischer“ Art, die er mit Bezug auf Sexualität und Geschlechterrollen entwickelt. Weil jede Schilderung vergangener Wirklichkeit von den Möglichkeiten und Interessen der Gegenwart her gesteuert wird, sind solche Interferenzen der Zeiten nicht (wie in Hegels „Ästhetik“) als Fehler zu begreifen; vielmehr dienen auch sachliche (kontrafaktische) und nicht zuletzt spielerisch-narrative Zeitvertauschungen der Hervorhebung des „Konstruktcharakter[s] jeder Geschichtsdarstellung“ (S. 90). Das wird nicht nur an Fuldas Beispieltext deutlich – Angela Steideles fiktiver, aber auf historische Materialien gestützter Briefedition „Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.“ (2015) –, sondern auch an anderen intellektuell und ästhetisch ambitionierten Texten. Nicht unerwähnt bleiben sollen Leonhard Herrmanns Überlegungen zur Rolle des Religiösen im gegenwärtigen historischen Erzählen, selbst wenn sie innerhalb des Bandes wenig Anschluss finden. Die „Wiederkehr“ des historischen Erzählens korrespondiert nicht nur zeitlich in etwa mit einer nach dem Jahr 2000 diskutierten „Rückkehr der Religionen“ (S. 131). Die nach gängigem Verständnis säkularisierten Gesellschaften der Gegenwart mit ihren rationalen Wissensformen konfrontiert der religiöse Glaube mit einem Gegenbild, das am besten im narrativen Rückgriff auf Geschichte darzustellen ist – zumal er genauso wenig noch Verbindlichkeit beanspruchen kann wie jede historische Rekonstruktion.

Es überrascht nicht, dass im erzählenden Rückblick auf das 20. Jahrhundert (Sektion II) jedenfalls in deutschsprachigen Texten der Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte verweigerter oder versäumter Auseinandersetzungen im Zentrum stehen. Drei Beiträge (Helmut P.E. Galle, Robert Forkel, Eva Kuttenberg) widmen sich deutschen und österreichischen Romanen, die mit der literarischen Lizenz zum Erfinden „Erfahrungen simulieren“ (Galle, S. 201) oder ein Mehrgenerationenschema verwenden, um den „Akt des Vergegenwärtigens“ (Forkel, S. 205) selbst zu thematisieren. Forkels materialreicher Beitrag führt außerdem vor, dass historisches Erzählen auch institutionelle Erinnerungspraktiken kritisch kommentieren kann. Während die meisten Beiträge trotz des programmatischen Verzichts auf das Gattungskriterium an Romanen als Untersuchungsgegenständen festhalten, erweitert Stephan Jaeger das Spektrum im Blick auf Darstellungen des Ersten Weltkrieges mit der Berücksichtigung von Erzählverfahren in Historiografie (Jörn Leonhards „Die Büchse der Pandora“, 2014), Zeitschrift („die horen“ Jg. 59, 2014) und Ausstellung („Der gefühlte Krieg“, Museum Europäischer Kulturen, Berlin-Dahlem 2014/15). Er arbeitet einen gemeinsamen, am Authentischen orientierten Diskurs heraus, der nationale Erinnerungskulturen überschreitet.

Wenn „hybride“ Romanformen (wie W.G. Sebalds „Austerlitz“, 2001) Literatur, Geschichte und Bildmedien miteinander engführen‚ versuchen sie eine „empathetische Zugänglichkeit“ herzustellen (Lynn L. Wolff, S. 299), die ihre Konstruktion zugleich offenlegt (Sektion III). Solche Konstruktivität wird im para- oder alternativhistorischen Roman – etwa bei Christian Kracht oder Michael Kleeberg (Beitrag von Daniele Vecchiato) – evident, der sein Verfahren auch romanintern noch einmal reflektieren kann. Spätestens im postkolonialen Roman (Aufsatz von Herbert Uerlings) kommt eine „Positionalität“ der Erzähl- bzw. Autorinstanz oder von Figuren ins Spiel, die sich in ethnischen, kulturellen, geschlechtlichen und anderen Zugehörigkeiten auslegen lässt. Dass Geschichte nicht geschlechtslos ist, führen zwei Beiträge vor (neben dem schon erwähnten Daniel Fulda in Sektion I auch Gaby Pailer in Sektion IV). Als überraschend raffiniert erweisen sich die kinder- und jugendliterarischen Zeitreiseromane (wie Alex Scarrows „Time Riders“, engl. seit 2011), deren jugendliche Protagonisten aus denkbar unterschiedlichen – vergangenen, zeitgenössischen und zukünftigen – Zeitprovenienzen in die zurückliegende Geschichte eingreifen müssen, um deren noch katastrophaleren Ablauf zu verhindern – und dabei naturgemäß bis an den Rand des Paradoxen geraten (Sabine Planka, Sektion IV). Die geschichtsdidaktische Absicht, die hier zutage tritt, ist aufs Ganze gesehen nur Exponent eines stets mehr oder weniger latent vorhandenen „Engagements“, das gegenwärtiges Erzählen von Geschichte antreibt. Auch wenn die „retrospektive Sinnstiftung“ durch Literatur im Einzelfall der „hochliterarischen“ Texte meist wenig aussichtsreich erscheint: Den kritischen Blick auf Historizität schärft Literatur allemal.

Insgesamt belegen die Aufsätze luzide, wie die Tücke des historischen Objekts, sich einem direkten Zugriff zu entziehen, zur Tugend eines avancierten Erzählens geworden ist. Die Frage, mit welchem Recht ein Erzählen „romanhaft“ heißen mag, wenn es weder originär noch generisch mit der Erzählgattung Roman verbunden ist, blieb dem Rezensenten zwar bis zum letzten Beitrag erhalten. Offene Fragen mindern den Anregungs- und Erkenntnisgewinn des Bandes indes durchaus nicht.

Anmerkungen:
1 Nikolaus Förster, Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre, Darmstadt 1999.
2 Vgl. etwa die wegweisende Untersuchung von Hans Vilmar Geppert, Der „andere“ historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976; sowie ders., Der historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009; Ina Ulrike Paul / Richard Faber (Hrsg.), Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft, Würzburg 2013.